Was Europa aus den Erfahrungen des Solar-Vorreiters lernen kann
Californication: Was Europa aus den Erfahrungen des Solar-Vorreiters lernen kann

Europa könnte bald einen Vorgeschmack auf die Probleme Kaliforniens mit der dortigen  Solarenergie bekommen, wenn nicht bald intelligente Vorschriften erlassen und zügig KI-unterstützte IT-Systeme eingesetzt werden.

Der “Golden State” ist berühmt für den Glamour von Hollywood, das Silicon Valley, das mehr wert ist als all das Gold, das während des Goldrausches abgebaut wurde, den wunderschönen Goldmohn  und natürlich Sonnenschein. Aber es stellt sich heraus, dass nicht alles, was glänzt, tatsächlich Gold ist.

In ihrem Hit-Song "Californication" aus dem Jahr 2000 erkundete die in Los Angeles ansässige Rockband Red Hot Chili Peppers (RHCP) die dunkle Seite ihres Heimatstaates. Dass Kalifornien mittlerweile massive Mengen an Solarenergie ungenutzt abregeln muss, hatten sie dabei aber (noch) nicht auf dem Radar. Doch dieses Schicksal könnte auch Europa drohen, wenn nicht rechtzeitig die notwendigen Schritte eingeleitet werden, um der Entwicklung vorzubeugen.

 

Die kalifornische Entenkurve

Vor dem Aufkommen der Solarenergie sah die typische tägliche Lastkurve in etwa so aus:

 

electric load curve pre-renewables

Quelle: Energy Vanguard

 

Grundlastkraftwerke sorgten den ganzen Tag über für eine konstante Stromversorgung, während Spitzenlastkraftwerke zusätzliche Energie in Spitzenzeiten lieferten. Einfach ausgedrückt: Je flacher die Lastkurve, desto zufriedener ist das Versorgungsunternehmen. Wenn die Nachfrage perfekt flach wäre, müssten die Versorgungsunternehmen nur sicherstellen, dass sie diese konstante Menge an Elektrizität liefern, indem sie sich nur auf Grundlastkraftwerke verlassen. Doch hier kommt die erneuerbare Energie ins Spiel.

Mit der zunehmenden Verbreitung von Solarenergie verändert sich diese Lastkurve: Tagsüber liefert die Solarenergie nun einen großen Teil dessen, was früher von Grundlastkraftwerken bereitgestellt wurde. Die benötigte Menge an konventioneller Energie wird also kleiner, aber die Nachfrage erreicht nach wie vor abends einen Höhepunkt, genau zu dem Zeitpunkt, an dem ein großer Teil der Solarenergie mit dem Sonnenuntergang verschwindet. Die Lücke, die durch den Sonnenuntergang entsteht, bedeutet, dass konventionelle Spitzenlastkraftwerke bereit sein müssen, um die Lücke zu füllen. Dafür benötigen sie  eine große Kapazität, da der abendliche Anstieg der Nachfrage mittlerweile deutlich steiler ist als vor dem Aufkommen der Solarenergie. Heutzutage ähnelt die Lastkurve in ihrer Form der Silhouette einer Ente, daher der Begriff “duck curve” oder "Entenkurve".

 

net load curve duck curve California

Quelle: CAISO

 

Solarenergie nimmt einen immer größeren Anteil an der Energieversorgung ein - manchmal sogar zu viel.

Kalifornien hat in den letzten Jahren eine hohe Solarkapazität aufgebaut, verfügt aber noch nicht über genügend Speicherkapazitäten, um diese für die Spitzenlastzeiten zu nutzen, wenn die Energie am dringendsten benötigt wird. Als Ergebnis wird die Einspeisung von Solarenergie in das Netz manchmal abgeregelt, um konventionelle Kraftwerke auf die Produktion zur Abdeckung der Abendspitze vorzubereiten. Am 6. September 2022 beispielsweise, mitten in einer beispiellosen Hitzewelle, konnte der Staat nur knapp Stromausfälle vermeiden. Laut der Washington Post mussten offizielle Stellen die Bevölkerung sogar dazu aufrufen, Strom zu sparen und so die Erzeugungslücke zu reduzieren, , obwohl nur wenige Stunden zuvor so viel Solarenergie verfügbar war, dass California Independent System Operator (CAISO), der Übertragungsnetzbetreiber, sogar hunderte von Megawatt nicht abnehmen konnte, einfach weil zu diesem Zeitpunkt ein Überangebot an Strom bestand. Diese kontraintuitive Maßnahme wird als Abregelung bezeichnet und ist keineswegs ein neues Phänomen.

Im Jahr 2014 wurden in Kalifornien aufgrund von Überangeboten etwa 2,2 GWh erneuerbare Energie abgeregelt, was im Vergleich zu den insgesamt 44.000 GWh an Energie, die in diesem Jahr durch das Netz flossen, schon fast zu vernachlässigen ist. Mit dem Wachstum der erneuerbaren Energien hat sich das Problem jedoch verschlimmert. Sechs Jahre später betrug die Abregelung durch CAISO bereits beträchtliche 1.500 GWh, bzw. 5% der kommerziellen Solarstrom-Erzeugung, was eine enorme Verschwendung darstellt. Angesichts der Tatsache, dass Kalifornien bis 2030 einen Anteil von 50% erneuerbarer Energien erreichen will, ist zu erwarten, dass dieses Problem sich sogar noch verschlimmern wird. Diese Entwicklung ist sicherlich nichts, was Europa nachmachen sollte, doch die “Californication” ist ohne die richtigen Gegenmaßnahmen nicht aufzuhalten und wir sehen, dass Abregelungen tatsächlich auch auf unserer Seite des Teichs zu einem Problem werden könnten.

 

Die Sonne ist auch in Europa auf de Vormarsch

Die Solarkapazität in Europa steigt nicht nur stetig an, sie wächst auch rasanter, als die Projekte zur Modernisierung und Erweiterung des Stromnetzes Schritt halten können. Der jährliche Fortschrittsbericht von SolarPower Europe zeigt, dass im Jahr 2022 in der EU 47% mehr Solarkapazität installiert wurde als im Vorjahr. Genau wie in Kalifornien hat dieses Wachstum auch in Europa bereits zu Abregelungen geführt. Im April 2022 entsorgte Spanien beispielsweise eine beträchtliche Menge an Solarenergie, nachdem die Nachfrage nach Strom im Land gesunken war. Obwohl solche Vorkommnisse in Europa immer noch recht selten sind, nehmen Abregelungen zu - und das alles hat mit dem Sonnenuntergang zu tun.

Ein "Management" eines Sonnenuntergangs erfordert enorme Mengen an konventioneller Stromerzeugungskapazität, und die Entenkurve zeigt auch in Europa ihr hässliches Gesicht. Ein Übertragungsnetzbetreiber muss nicht nur die Netzstabilität sicherstellen, wenn die strombasierte Stromproduktion auf traditionelle Energiequellen umschaltet; diese Versorgung muss auch für Spitzenlaststunden hochgefahren werden, wie eingangs erklärt. Für die Kraftwerksbetreiber ist es äußerst herausfordernd, ihre Produktion innerhalb von wenigen Minuten hochzufahren, um den enormen Bedarf zu decken, der in dem Moment auftritt, wenn die Sonne untergeht und die Solarkraftwerke keinen Strom mehr produzieren.  Und obwohl PV-Systeme mit Batteriespeicher Teil der Lösung sind, reichen Batterien allein nicht aus.

Während der vor Sonnenuntergang erzeugte Strom gespeichert und der Spitzenlastzeit am Abend wieder eingespeist werden kann, müssen Batterien mit herkömmlichen Großkraftwerken koordiniert werden, um in der Lage zu sein, einzuspringen, wenn mehrere Gigawattstunden an Solarproduktion verworfen oder "verschwinden", einfach weil die Sonne untergeht. Es kann jedoch lange dauern, bis die Batteriekapazität ausreichend wächst, um diese Rolle vollständig zu erfüllen, wenn überhaupt. Die Lastverschiebung kann jedoch bereits einen wichtigen Beitrag leisten, ebenso wie Elektrofahrzeuge. Was auch immer die Lösung sein wird, sie kann nur wirksam gegen den Sonnenuntergang - und somit gegen Abregelungen - sein, wenn sie durch die richtige Software orchestriert und unterstützt wird. Intelligente Orchestrierung und fortschrittliche, KI-basierte IT-Technologien sind erforderlich, um effizientere Betriebsabläufe sicherzustellen, was wiederum zur Stabilisierung des Stromnetzes und zur Gewährleistung einer zuverlässigen Energieversorgung beiträgt.

Es besteht wirklich kein Grund, Solarenergie zu verschwenden: Wir können die reichlich vorhandene Sonnenenergie nutzen, indem wir sicherstellen, dass wir sie möglichst klug und zur richtigen Zeit einsetzen. Dies ist möglich durch den verstärkten Einsatz von Batteriespeichern und intelligenten IT-Systemen, die algorithmische Entscheidungen auf mittlerer und niedriger Spannungsebene treffen. Dies könnte Übertragungsnetzbetreiber dabei unterstützen, die Netze stabil zu halten, und würde zu einer Zukunft führen, in der keine Solarenergie mehr verschwendet, sondern möglichst effizient genutzt wird, um unseren Energiebedarf zu decken und die Umwelt nachhaltig zu schützen.